John Willis promenierte voller Stolz am Ufer des Leven entlang, dort wo der Fluss in den Firth of Clyde mündet. Unüblich für mittelschottische Gefilde ging er mit Spazierstock, und seinen Kopf krönte ein noch untypischerer hoher Zylinder. Ein weißer Zylinder! Man mag dem guten Mann eine gewisse Exaltiertheit unterstellen, müsste allerdings zugutehalten, dass drei Dinge für ihn sprachen:
Erstens war ihm als Londoner Reeder eine gehörige Portion Snobismus eigen, zweitens war er zuhause stets nur mit kurzem Unterhemd bekleidet (seine Gattin wünschte das so) und drittens trug er heute sein Haupt weit oben. Zu Recht. Es war der 25. November 1869 – und gerade war sein Schiff vom Stapel gelaufen.
Dorothy, die Frau des Kapitäns G. Moodie, hatte es soeben auf den Namen „Cutty Sark“ getauft, was bei Lady Willis Entsetzen auslöste: Hatte sie ihren Mann etwa auch so sehen dürfen? Zur Rede gestellt behauptete Dorothy, die breites Lowland Scots sprach, den Namen im Roman „Tam O’Shanter“ von Robert Burns gelesen zu haben, wo die schöne Hexe Nannie ein solches Cutty Sark, ein kurzes Unterhemd, trage.
Zum Beweis verwies sie auf die Galionsfigur, die eben jene Nannie im Kurzhemd darstellte. Und so rückte die durchaus berechtigte Eifersucht in den Hintergrund, wozu der im Schiffsbug eingravierte Sinnspruch ein Übriges beitat – wenngleich manch Übelmeinende darin einen augenzwinkernden Kommentar lesen mochten: „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“, war dort zu lesen, als Wortspiel auf den Schiffseigner verpackt: „Where there’s a Will…is a way:“
Den stolzen John Jock Willis kümmerte dies wenig. Seine „Cutty Sark“ war der Stolz in dieser Metropole des Schiffbaus: 85 Meter lang und elf Meter breit, mit knapp 50 Meter hohem Hauptmast und zwei unwesentlich kleineren, die 3000qm Tuch verteilt auf 43 Segel Halt gaben und den 2000 Tonnen schweren Klipper damit bis auf annähernd 20 Knoten Spitzengeschwindigkeit beschleunigen würden. Allen war klar, dass dies nicht nur das schnellste und großartigste Schiff seiner Zeit werden würde, sondern ganz sicher auch das berühmteste.
Allerdings schwebte über der „Cutty Sark“ auch das Damokles-Schwert des technischen Fortschritts. Nur wenige Jahre nach seiner Indienststellung für den Teehandel mit Indien und China gehörte es zum „alten Eisen“. Der Seeweg durch den Suezkanal verkürzte die Transportwege um die Hälfte der Zeit, zumal für die neuen Dampfschiffe. Schließlich landete Cutty Sark auf einem eigenen Trockendock im Hafen von Greenwich als Museumsschiff, wo es seit 2012 wieder besichtigt werden kann.
(aus: "In 80 Texten übers Meer". Maritime Anekdoten, Hamburg 2023)
Die Sterngucker-Pastete vom Mauseloch
Mousehole, gesprochen „mausel“ ist ein Hafen „an der Mündung des Flusses der jungen Frauen“, jedenfalls wenn sich der Begriff wirklich vom kornischen Mowesheyl ableitet. Folke Tjarks kicherte in sich hinein und berichtete ernsthaft: Das 800-Seelen-Dorf gehöre zur Stadt Penzance an der englischen Südwestküste im Distrikt Penwith, Corwall, wo wenig später nur noch Lamorna Cove kommt, zum Anlegen zu klein, dann das Freilichttheater von Purthcurno und schließlich Land’s End. Mousehole ist eines der schönsten Fischerdörfer Großbritanniens, sagt man.
Auffällig ist die halbkreisförmige Kaimauer mit kleiner Öffnung zum Meer, die angeblich schon vor knapp 2.500 Jahren errichtet wurde. Interessant ist, dass die Zufahrt mit Holzbalken verschlossen werden kann, gegen Eindringlinge und Sturmfluten. Besonders angenehm erschien Folke an der Landseite die Kneipeninfrastruktur – wo manche Eingangstür zu einem Pub so niedrig ist, dass man nur gebückt hineinkommt; gebückt hinaus sei sowieso üblich, denn gemeinhin tut man dies auf allen Vieren. Spelunken, ja, könnte man auch sagen. Und zwielichtige Geschichten gäbe es auch über dieses Mäuseloch, von denen Folke hier gerne erzählen will:
Da ist zum einen Archie Leach, der nicht wirklich Archie Leach heißt, aber genauso aussieht wie dieser Anwalt aus „Ein Fisch namens Wanda“, also John Cleese von der Monty Python Truppe, und sich auch genauso linkisch bewegte: Hochgewachsen, wie er ist, machten ihm diese niedrigen Kneipen-türen von Mousehole zu schaffen, sie sind so ganz und gar nicht geeignet für ihn. Und jedes Mal, wenn er die Kneipe betrat, stieß er sich den Kopf an und löste Gelächter der Gäste aus. Das mochte noch witzig erscheinen. Doch dann musste mit der gleichen Regelmäßigkeit einer, meist der, der in seiner unmittelbaren Nähe stand, dran glauben. Das war dann nicht mehr ganz so witzig.
Oh, diese Engländer! Sie neigen dazu, sich Dinge einfallen zu lassen, die es gar nicht gibt. Jenkyn Keigwin zu Beispiel, von dem man sagt, er verteidigte als einziger Mann sein Haus vor mehr als 400 Jahren gegen spanische Eindringlinge und konnte es retten. Da alles andere niedergebrannt wurde, ist das Gebäude das älteste im Ort. Viele Jahre war darin das „Keigwin Arms“ und in dem Pub waren wir. Dachten wir jedenfalls. Jenkyn oder besser der Geist von ihm spukt noch heute in der Kneipe und in ganz Mousehole mit der Folge, dass niemand von der iberischen Halbinsel sich dieser Mausefalle nähert, den Ort gar betritt geschweige denn versucht im Hafen festzumachen. Was natur-gemäß dem Tourismus schadet.
Obwohl: Was sollen Spanier in Cornwall? Außer der Bevölkerung das Leben schwer machen. Dabei hatten die Leute hier eigene Sorgen. Das Hinterland gab für die Landwirtschaft nicht allzu viel her. Man lebte jahrhundertelang vom Fischfang und wenn man nicht rausfahren konnte, weil der Atlantik vor der Haustür wieder mal verrücktspielte, war Ebbe im Netz. Besonders in den Wintermonaten war dies ein schweres Los und verursachte einen leeren Magen – und nicht nur einen! Tom Bawcock wird nachgesagt so etwas wie der Robin Hood der Meere zu sein, das trifft es aber nicht wirklich.
Tom fuhr raus, als es kein anderer wagte – wie Forrest Gump, der Schrimpsfischer von Alabama. Einen Tag vor Heilig Abend musste es sein, denn Weihnachten ohne gedeckten Tisch geht gar nicht, sagte er sich. Vielleicht war es Glück, vielleicht Gottes Segen, Neptun, Poseidon, Rasmus oder wer auch immer hatte ein Einsehen mit Tom, der unversehrt heimkehrte und mit einem derart großen Fang zurückkam, der ausreichte, sämtliche Dorfbewohner zum Fest satt werden zu lassen. Sie dankten es ihm und feiern noch heute Tom Bawcock zu Ehren jedes Jahr am 23. Dezember ein großes Dorffest. Dann wird eine riesengroße Fischpastete angesetzt, und serviert wird sie direkt am Pier.
Wenn das Wetter mal nicht mitspielen will, durchaus auch gerne mal in der Hafenkneipe „Ships Inn“, wie die Spelunke wirklich heißt, in die es uns verschlagen hat, gleich hinter der Kaimauer. Und wo mir die Wirtin, ich komme gleich auch noch auf sie zu sprechen, das Rezept für dieses traditionelle Stargazy Pie verriet: Man nehme sieben verschiedene Fischsorten, vor allem Sardinen, Heringe, Sandaal, Stöcker, Katzenhaie und eine Dorschart namens Leng, wahlweise kann man, wenn etwas gar nicht zu bekommen ist, auch ersatzweise Makrelen verwenden. Dolly sagt, jeder Weiß-fisch sei geeignet. Man zieht den Tieren die Haut ab und entfernt die Gräten, von den Sardinen und Heringen aber weder Köpfe noch Schwänze, denn die sollen hernach aus der Teigmasse herausragen als ob sie in den Himmel schauen. Daher hat das Gericht seinen Namen Sterngucker-Pastete. Diese Pasty wird aus Milch, Eiern und gekochten Kartoffeln gemacht, meist als Mürbe- oder Blätterteig. Wir bekamen es in der Schiffsgaststätte mit Rhabarber-Chutney serviert. Igitt! Was Menschen alles essen, werden einige jetzt sagen. Kulinarisch anderweitig orientierte Nationen als die „Gourmets aus Great Britain“ neigen dazu, diese Speise durchaus als ekelerregend einzustufen. Ich bitte darum, dass dies nach Möglichkeit jede und jeder für sich selbst entscheiden möge.
Alles andere als ekelerregend war indes meine Wirtin Dolly Pentreath, die letzte mir bekannte Person, die noch flüssig das inzwischen ausgestorbene Kornisch als Muttersprache sprechen konnte. Ich habe, das könnt ihr mir glauben, in meinen vielen Jahrzehnten zur See noch mehr Frauen an ihren Küsten kennengelernt – aber bei keiner war der Anleger intensiver als bei Dolly! Ein wahrlich verrücktes Weib. Üppig und dennoch beweglich wie eine Turnerin. Man konnte nicht genau sagen, welches die wirklichen Waffen im „Keigwin Arms“ oder im „Ships Inn“ oder wo auch immer ich verführt wurde, waren. Dolly jedenfalls traf mich mitten ins Herz. Was schlimmer klingt als es in Wahrheit wirkte. Denn in diesem Sinne war mein Herz schon komplett durchlöchert.
„Das Hauptziel im Leben eines Engländers – zumindest der unteren Mittelklasse, der ja auch ich entstamme – ist es, sicher bis ins Grab zu kommen, ohne auf dem Weg dahin allzu großen Peinlichkeiten ausgesetzt gewesen zu sein.“ Soll Archie Leach, also richtiger John Cleese, einmal gesagt haben. Peinlicher als das, was mir altem Seebären in dieser Mausefalle geschah, ist wohl nichts, was ihr euch vorstellen könnt. Gerade als Dolly und ich uns einig waren und sie die Kneipe abschließen wollte, kam aufgeregt Archie Leach angerannt, rammte sich seinen Schädel an der Tür des Pubs und stotterte: Folke, dein Schiff! Ich rannte raus, der Mast war nicht mehr zu sehen. Die Segelyacht lag auf einem Sandhaufen mitten im Hafenbecken, 20 Meter lang hingestreckt und so auf der Seite, dass sie, als sie umgefallen ist, kein anderes Boot traf. Sauber, sagte Dolly, zog mich von der Kaimauer weg und meinte, in sechs Stunden steht er wieder, der Kahn.
(aus: FOLKE TJARKS: „Klabautermann der uferlosen Wörter“)
Wie diese Legende vom Liebesturm geht, wollt ihr wissen? Könnt ihr haben. Es handelt sich um ein ganz besonderes Bauwerk mit dem Namen “La Toretta Marinich”, sechseckig, aus Natursteinen gemauert, vielleicht gerade mal zwölf Meter hoch, mit einer außen spindelförmig verlaufenden Wendeltreppe drum herum und einer Aussichtsplattform oben drauf. Seine Entstehungsgeschichte ist die von Petar und Antonija, einem sehr unterschiedlichen Paar. Daniela hat sie mir erzählt. Und es ist alles andere als eine Legende, es ist das wahre Leben! Glaubt mir.
Er, Petar, stammte aus einer eher armen Familie, während Antonija ein Mädchen aus wohlhabendem Hause war. Sie kannten einander schon ewig, hatten als Kinder zusammen gespielt, verbrachten ihre Kindheit gemeinsam. Und wie es nicht anders zu erwarten war, verliebten sie sich ineinander. Als aber Petar zwanzigjährig ebenso erwartbar seiner Antonija einen Heiratsantrag machte, war ihre Familie strikt dagegen: Die Standesschranken standen einer Hochzeit im Wege. Wir befinden uns noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Petar fasste den Entschluss, zur See zu fahren, um als reicher Seefahrer zurückzukehren und dann seine Antonija standesgemäß zu ehelichen. Vorher versprach er seiner Angebeteten noch ein Haus zu bauen mit einem schönen Garten und dazu einen hohen Turm, von dem aus Sie das Meer und die Inseln beobachten könnte, während sie auf seine Rückkehr wartete. Sie versprach ihm ewige Treue – und wir merken schon: Das ist der Romantik zu viel. Jahre vergingen. Petar segelte um die ganze Welt, befuhr alle Ozeane, machte Geschäfte in Australien, Amerika und Afrika. Antonija indessen verfiel in Ungeduld und Zweifel um Petars Rückkehr. Des jahrelangen Wartens müde und mürbe, heiratete sie einen von Petars Freunden.
Erst zwanzig Jahre nach seinem Aufbruch kehrte Petar auf die Adriainsel Silba zurück, er kam als reicher Kapitän in seine Heimat. Man sagt, dass hunderte von Menschen sein Schiff erwartet und empfangen hätten, nur – wie er enttäuscht feststellen musste – war seine Antonija nicht dabei. Aber in der Menschenmenge entdeckte Petar ein Mädchen, das genauso schön war wie seine Angebetete, ein wahres Abbild von Antonija. Es war deren Tochter Izidora Domenika. Als Petar von der Heirat seiner Antonija erfuhr, ließ er sich nicht entmutigen, sondern war entschlossen, diese Tochter zu heiraten, wenn er Antonija nicht haben konnte. Nur müsste er darauf noch warten, bis Domenika erwachsen war.
Tatsächlich wurden diese beiden einige Jahre später vermählt. Kapitän Petar baute das Haus nun für Domenika, und – als er schon 76 Jahre alt war – auch diesen Turm im Jahr 1892, als Zeichen seiner wahren Liebe und Treue. Mit Domenika hatte Petar schließlich elf Kinder. Antonija hat sein Haus und den Liebesturm niemals betreten. 1897 starb Petar, 1912 Domenika. La Toretta Marinich wird für immer Symbol dieser unglücklich-glücklichen Liebe sein.
Diese wahre Anekdote spielt in Skioni, was eine Kolonie der griechischen Insel Euböa auf der Kassandra-Halbinsel im Chalkidiki war, dort wo heute das Dorf Nea Skioni liegt. In dem überwiegend von Fischerbooten benutzten Hafen ging ich vor einigen Jahren vor Anker – und abends in einer Hafenbar erzählten mir die Einheimischen stolz von ihrem berühmtesten ehemaligen Mitbewohner:
Der Historiker Herodatos von Halicarnassos, bekannt als Vater der Geschichte, berichtet, dass 480 v.Chr. der berühmte Taucher und Schwimmer Skillias aus Skioni von den Persern gefangen genommen werden sollte. Sie wussten um seine großen Fähigkeiten, die sie gegen die griechische Flotte einsetzen wollten. Als Skillias von ihren Plänen erfuhr, tauchte er in die See, kappte die Ankerleinen der persischen Schiffe und verursachte damit große Schwierigkeiten für die persische Flotte. Einen Halm als Schnorchel benutzend schwamm er, ohne an die Wasseroberfläche zu gelangen, ans neun Seemeilen entfernte Kap Artemista (wenn wir Herodatos Glauben schenken können) und verriet die persischen Pläne an die Griechen.
So vermieden die Griechen in die Falle zu gehen, die die Perser ihnen gestellt hatten, erkannten rechtzeitig deren lauernde Flotte und vernichteten sie in fortgesetzten Seeschlachten. Der Taucher Skillias hatte Griechenland gerettet. In Anerkennung der Heldentaten von Skillias und seiner Tochter „Idna, die ebenso eine herausragende Schwimmerin war und ihren Vater effektvoll unterstützte“, wie es in der Überlieferung geschrieben steht, setzten die Amphictryons ihren beiden Helden Statuen als Denkmale in der heiligsten aller griechischen Stätten, nämlich in Delphi.