Oktober 2025: Eine unbequeme Bekanntschaft

Veröffentlicht am 1. Oktober 2025 um 19:35

Guido Brunetti ging neben Lukas Tannenberg durch die Gassen von Venedig. Immer wieder bleib er stehen und erklärte dies und das. Zu fast jeder Sehenswürdigkeit fiel ihm eine Geschichte ein, die zu erzählen sich lohnte, meinte jedenfalls Brunetti. Und wie immer geriet er dabei ins Schwärmen, es ging schließlich um seine Heimatstadt, und die liebte er sehr. Als sie vor dem Gebäude der Küstenwache angekommen waren, lobte er die Aussicht vom Vordereingang, die – wie er meinte – in jedem Fall besser als die von seiner Questura aus war; da musste Lukas ihm recht geben: „Dort hatten wir einen Kanal und eine Kirche, aber das gab es in Venedig fast an jeder Ecke. Hier hingegen bot sich jedem, der das Haus verließ, ein Panorama der Guidecca, vom Molino Stucky bis zum anderen Ende, wo einige der bedrohlicheren Einsatzboote der Guardia Costiera vor Anker lagen.“

Aber der Reihe nach: Brunetti und Tannenberg hatten sich auf einer internationalen Tagung zur Bekämpfung von Straftaten im Bereich des geistigen Eigentums von Europol in Den Haag kennen gelernt und bald eine gewisse geistige Nähe verspürt. Beide sollten sie von ihren Vorgesetzten damals „aus der Schusslinie genommen werden“, wie es der Kriminalrat in Braunschweig formulierte, aufs Abstellgleis geschoben, wie Brunetti es seinem Vizequestore vorwarf. Egal, um Urheberrechtsverletzungen ging es nicht wirklich. Vielmehr waren „Prävention des illegalen Waffen- und Drogenhandels, der Kinderpornografie und der Geldwäsche“ die Themen, ihre Chefs hatten davon keine Ahnung.

Aus der Bekanntschaft erwuchs eine gewisse Freundschaft, Brunetti legte gern, wenn er mit seiner Familie – „der gemäßigteren Temperaturen wegen“, wie seine Frau Paolo anmerkte – an der Ostsee urlaubte, einen Zwischenstopp in Braunschweig ein, Lukas Tannenberg hatte die Brunettis zweimal in Venedig besucht, auf seinen Fahrten in die Lunigiana, wo er bevorzugt wanderte, meist auf der Via Fancigena. Dies war sein dritter Besuch in der Serenissima, und er versprach länger zu bleiben und sich die „unbekannteren“ Seiten der Lagunenstadt zeigen zu lassen. So auch hier das Ufer des Guidecca-Kanals.

Jetzt, bei Guidos Erwähnung von Stucky, schaltete Tannenbergs Heimat-Hirn einen Gang höher. Molino Stucky ist die große Schwester der Braunschweiger Roggenmühle in Lehndorf. Die müsste er Guido beim nächsten Besuch einmal zeigen, verblüffende äußere Ähnlichkeit. Brunetti hatte sich vorbereitet: Diese ehemalige Getreidemühle auf der nordadriatischen Insel Giudecca bildet den industriekulturellen Brückenschlag von Braunschweig nach Venedig, wo sie das bedeutendste Industriedenkmal der Dogen- und Lagunen-Stadt darstellt. Schwestermühle vor allem deshalb, weil sie Ende des 19. Jahrhunderts von demselben Architekturbüro wie die Braunschweiger Roggenmühle entworfen wurde und sogar über die gleiche technische Ausstattung verfügte. Auch optisch wirkt der für Norddeutschland bekannte neugotische Backsteinbau in Venedig eher fremd.

Diese direkt am Meerwasser hochaufragende Fassade, die wie ein Kontorhaus in der Hamburger Speicherstadt aussieht, war bis zum 2. Weltkrieg die größte Mühle Italiens, wusste Brunetti. „1955 wurde sie geschlossen.“ Es dauerte bis zur Wende zum 21.Jahrhundert, dass aus den Ruinen auf dem Gelände am Canale delle Giudecca Privatwohnungen und ein Kongresszentrum mit Hotel entstanden, das allerdings bereits am 15. April 2003 durch einen Großbrand stark beschädigt wurde. Besonders bedauerlich war der Einsturz des markanten turmartigen Kornspeichers. „Wir ermittelten damals kurze Zeit wegen Brandstiftung, genauso wie seinerzeit beim Teatro Fenice – ein Schelm, wer Böses dabei denkt“, merkte Brunetti an. „Wieso nur kurze Zeit?“ – „Patta hatte andere Anweisungen“, kommentierte Guido. Heute ist das Molino Stucky Hilton ein Hotel mit 380 Betten und sein Kongresssaal fasst 1500 Personen.

Was Brunetti verschwieg und Lukas später recherchierte, war der Namensgeber, dieser Giovanni Stucky. Der lebte von 1843 bis 1910 und war ursprünglich Schweizer Unternehmer hier in Venedig, der bereits 22jährig eine eigene Mühle in Mogliano im Veneto betrieb. Von 1867 bis 1880 expandierte sein Geschäft derart, dass er sechs Mühlen im Bereich von Treviso pachtete, russisches Getreide importierte und Mehl sowie Teigwaren exportierte, die in seiner firmeneigenen Pastafabrik hergestellt wurden. 1884 ließ er sich vom Architekten Ernst Wullekopf eine industrielle Großmühle auf der Giudecca errichten. Der historisierende Gebäudekomplex im Stil der Backsteingotik wurde mehrfach erweitert und nach anfänglicher Ablehnung als industrielles Wahrzeichen akzeptiert.

Nun aber verschlug es dem Braunschweiger Kriminalhauptkommissar Lukas Tannenberg beinahe den Atem, als er am heimischen PC folgendes ermittelte: Am 21. Mai 1910 wurde Giovanni Stucky in der Halle des Bahnhofs von Venedig von einem 35-jährigen Anarchisten, einem gewissen Giovanni Brunetti mit einem Rasiermesser ermordet. Dieser Namensvetter seines „Freundes“, der zeitweilig in Stuckys Unternehmen gearbeitet hatte, verbrachte bereits wegen Drohungen gegen die Familie Stucky 18 Monate im Gefängnis. Man muss wissen, dass Giovanni Stucky um 1900 als reichster Mann Venedigs galt und als Chef nicht immer einfach war.

Stucky, dieser imposante blonde Patriarch von ungewöhnlicher Körpergröße, trat zwar als Wohltäter und Förderer der Kunst-Biennale hervor, war überdies gefragter Mäzen für dies und das, er führte den Ehrentitel Cavaliere und erhielt kurz vor seinem Tod gar eine Goldmedaille für besondere Verdienste. Guido Brunetti aber, dieser inzwischen weltberühmte Commissario von Donna Leon, bestreitet bis heute vehement jede Verwandtschaftsbeziehung mit diesem Attentäter. Lukas beschloss, es dabei zu belassen und keine weiteren Fragen zu stellen. Möge das nächste Aqua alta alle unangenehmen Gedanken dazu hinwegschwemmen.