TEXT DES MONATS

Oktober 2025

Eine unbequeme Bekanntschaft

Guido Brunetti ging neben Lukas Tannenberg durch die Gassen von Venedig. Immer wieder bleib er stehen und erklärte dies und das. Zu fast jeder Sehenswürdigkeit fiel ihm eine Geschichte ein, die zu erzählen sich lohnte, meinte jedenfalls Brunetti. Und wie immer geriet er dabei ins Schwärmen, es ging schließlich um seine Heimatstadt, und die liebte er sehr. Als sie vor dem Gebäude der Küstenwache angekommen waren, lobte er die Aussicht vom Vordereingang, die – wie er meinte – in jedem Fall besser als die von seiner Questura aus war; da musste Lukas ihm recht geben: „Dort hatten wir einen Kanal und eine Kirche, aber das gab es in Venedig fast an jeder Ecke. Hier hingegen bot sich jedem, der das Haus verließ, ein Panorama der Guidecca, vom Molino Stucky bis zum anderen Ende, wo einige der bedrohlicheren Einsatzboote der Guardia Costiera vor Anker lagen.“

Aber der Reihe nach: Brunetti und Tannenberg hatten sich auf einer internationalen Tagung zur Bekämpfung von Straftaten im Bereich des geistigen Eigentums von Europol in Den Haag kennen gelernt und bald eine gewisse geistige Nähe verspürt. Beide sollten sie von ihren Vorgesetzten damals „aus der Schusslinie genommen werden“, wie es der Kriminalrat in Braunschweig formulierte, aufs Abstellgleis geschoben, wie Brunetti es seinem Vizequestore vorwarf. Egal, um Urheberrechtsverletzungen ging es nicht wirklich. Vielmehr waren „Prävention des illegalen Waffen- und Drogenhandels, der Kinderpornografie und der Geldwäsche“ die Themen, ihre Chefs hatten davon keine Ahnung.

Aus der Bekanntschaft erwuchs eine gewisse Freundschaft, Brunetti legte gern, wenn er mit seiner Familie – „der gemäßigteren Temperaturen wegen“, wie seine Frau Paolo anmerkte – an der Ostsee urlaubte, einen Zwischenstopp in Braunschweig ein, Lukas Tannenberg hatte die Brunettis zweimal in Venedig besucht, auf seinen Fahrten in die Lunigiana, wo er bevorzugt wanderte, meist auf der Via Fancigena. Dies war sein dritter Besuch in der Serenissima, und er versprach länger zu bleiben und sich die „unbekannteren“ Seiten der Lagunenstadt zeigen zu lassen. So auch hier das Ufer des Guidecca-Kanals.

Jetzt, bei Guidos Erwähnung von Stucky, schaltete Tannenbergs Heimat-Hirn einen Gang höher. Molino Stucky ist die große Schwester der Braunschweiger Roggenmühle in Lehndorf. Die müsste er Guido beim nächsten Besuch einmal zeigen, verblüffende äußere Ähnlichkeit. Brunetti hatte sich vorbereitet: Diese ehemalige Getreidemühle auf der nordadriatischen Insel Giudecca bildet den industriekulturellen Brückenschlag von Braunschweig nach Venedig, wo sie das bedeutendste Industriedenkmal der Dogen- und Lagunen-Stadt darstellt. Schwestermühle vor allem deshalb, weil sie Ende des 19. Jahrhunderts von demselben Architekturbüro wie die Braunschweiger Roggenmühle entworfen wurde und sogar über die gleiche technische Ausstattung verfügte. Auch optisch wirkt der für Norddeutschland bekannte neugotische Backsteinbau in Venedig eher fremd.

Diese direkt am Meerwasser hochaufragende Fassade, die wie ein Kontorhaus in der Hamburger Speicherstadt aussieht, war bis zum 2. Weltkrieg die größte Mühle Italiens, wusste Brunetti. „1955 wurde sie geschlossen.“ Es dauerte bis zur Wende zum 21.Jahrhundert, dass aus den Ruinen auf dem Gelände am Canale delle Giudecca Privatwohnungen und ein Kongresszentrum mit Hotel entstanden, das allerdings bereits am 15. April 2003 durch einen Großbrand stark beschädigt wurde. Besonders bedauerlich war der Einsturz des markanten turmartigen Kornspeichers. „Wir ermittelten damals kurze Zeit wegen Brandstiftung, genauso wie seinerzeit beim Teatro Fenice – ein Schelm, wer Böses dabei denkt“, merkte Brunetti an. „Wieso nur kurze Zeit?“ – „Patta hatte andere Anweisungen“, kommentierte Guido. Heute ist das Molino Stucky Hilton ein Hotel mit 380 Betten und sein Kongresssaal fasst 1500 Personen.

Was Brunetti verschwieg und Lukas später recherchierte, war der Namensgeber, dieser Giovanni Stucky. Der lebte von 1843 bis 1910 und war ursprünglich Schweizer Unternehmer hier in Venedig, der bereits 22jährig eine eigene Mühle in Mogliano im Veneto betrieb. Von 1867 bis 1880 expandierte sein Geschäft derart, dass er sechs Mühlen im Bereich von Treviso pachtete, russisches Getreide importierte und Mehl sowie Teigwaren exportierte, die in seiner firmeneigenen Pastafabrik hergestellt wurden. 1884 ließ er sich vom Architekten Ernst Wullekopf eine industrielle Großmühle auf der Giudecca errichten. Der historisierende Gebäudekomplex im Stil der Backsteingotik wurde mehrfach erweitert und nach anfänglicher Ablehnung als industrielles Wahrzeichen akzeptiert.

Nun aber verschlug es dem Braunschweiger Kriminalhauptkommissar Lukas Tannenberg beinahe den Atem, als er am heimischen PC folgendes ermittelte: Am 21. Mai 1910 wurde Giovanni Stucky in der Halle des Bahnhofs von Venedig von einem 35-jährigen Anarchisten, einem gewissen Giovanni Brunetti mit einem Rasiermesser ermordet. Dieser Namensvetter seines „Freundes“, der zeitweilig in Stuckys Unternehmen gearbeitet hatte, verbrachte bereits wegen Drohungen gegen die Familie Stucky 18 Monate im Gefängnis. Man muss wissen, dass Giovanni Stucky um 1900 als reichster Mann Venedigs galt und als Chef nicht immer einfach war.

Stucky, dieser imposante blonde Patriarch von ungewöhnlicher Körpergröße, trat zwar als Wohltäter und Förderer der Kunst-Biennale hervor, war überdies gefragter Mäzen für dies und das, er führte den Ehrentitel Cavaliere und erhielt kurz vor seinem Tod gar eine Goldmedaille für besondere Verdienste. Guido Brunetti aber, dieser inzwischen weltberühmte Commissario von Donna Leon, bestreitet bis heute vehement jede Verwandtschaftsbeziehung mit diesem Attentäter. Lukas beschloss, es dabei zu belassen und keine weiteren Fragen zu stellen. Möge das nächste Aqua alta alle unangenehmen Gedanken dazu hinwegschwemmen.


September 2025

James Bond am Stadtkai

Er sagte nicht, dass er als Doppelnullagent für den MI6 tätig gewesen sei, doch es war so. Oder musste so gewesen sein, denn seine Ausrüstung ließ keinen anderen Schluss zu und war uns allen somit eine riesengroße Hilfe. Der Smut bewahrte sein teures i-phone bevorzugt in der Brusttasche eines seiner leichten Hawaiihemden auf, die er immer trug, und so musste es zwangsläufig irgendwann einmal dazu kommen, was oft passiert, wenn man spontan nach dem dritten Weinglas nochmal schnell auf dem Vordeck oder am Anker etwas richten will: Das Mobiltelefon rutschte beim Bücken raus und fiel ins Wasser des Hafenbeckens, vier Meter Tiefe! Tauchen am Morgen, wenn es wieder hell sein würde, müsste gehen. Würde, müsste – gleich zwei Konjunktive!

Tatsächlich war das Hafenwasser hier anders als sonst derart klar, dass wir das „Smutphone“ auf dem Grund liegen sahen, gute Sicht! Der erfahrenste Taucher an Bord, allerdings war das mit der Erfahrung Jahrzehnte her, erklärte sich bereit. Zunächst bestand die Schwierigkeit darin hinunterzukommen. Wir präparierten den Heckanker mit fünf Meter Kettenvorlauf und konstruierten so eine Art Vertikalstange; Stange? Naja! Aber man müsste sich daran hinunterhangeln können. Versuch eins scheiterte! Es ist ja so, dass es in diesen Momenten stets von Experten wimmelt, die in einen Wettbewerb um die beste Lösung eintreten. Der freundliche ältere Gentleman vom britischen Nachbarboot aus Coves bot Unterstützung an und stand mit einem Mal samt professioneller Angelausrüstung auf unserem Bug. Kein Haken oder Blinker für den Fischfang, sondern einfach ein starker Magnet sollte es richten. Das Handy biss tatsächlich an, verlor aber beim Einholen der Angelschnur den Halt, wohl wegen zu viel Plastik drumherum. Und dann dockte der Magnet kackfrech am Anker an!

Ein Crewmitglied meinte, man müsste jetzt so einen Apfelpflücker dabeihaben, wie sie daheim in jedem zweiten Obstgarten zu finden seien. Aber wenn du so etwas auf See mit dir führst, halten dich möglicherweise alle Besucher dieses Hafenkinos für bescheuert. Unser englischer Geheimagent griff zur nächst stärkeren Waffe, mit dem Q sein Schiff offenbar vor der Abreise ausgestattet haben musste: Eine Art Tauchunterstützung, die aussah wie der Lenker eines Motorrollers – mit Akku-Motor –, der den Tauchenden durchs Wasser zog, also auch schneller nach unten. Seine Frau, bestimmt über 70, ein wenig gealtertes ehemaliges Bond-Girl, reichte ihm sein Spielzeug ins Wasser, das ich später als Unterwasser-Scooter identifizierte. Sofort zog es ihn oder saugte es unseren 007 auf den Grund des Hafenbeckens. Eine saubere Bergung in James-Bond-Manier! Als der glückliche Smutje sein Apfelgerät wieder in den Händen hielt, funktionierte es sogar noch. Wie gut, dass er vor unserem Törn extra noch die water-proof-App auf sein Mobiltelefon geladen hatte!


August 2025

Wie ich die Frau des Leuchtturmwärters kennenlernte

Sandrine kam sich vernachlässigt vor, wäre da nicht dieser gutaussehende, blauäugige Mann fortgeschrittenen Alters gewesen, der als Einziger im ganzen Raum, in dem gesamten Theatergebäude, ja wahrscheinlich in der ganzen Stadt Französisch mit ihr sprach. Und als er sie fragte, ob sie eine Gauloise mit ihm rauchen möge, entlockte er ihr doch tatsächlich dieses unvergleichliche Lächeln.

Natürlich war er an ihrer Rolle als Leuchtturmwärter-Gattin interessiert – und an ihr als Frau! Erinnert sich jemand an den Film, in dem ein junger, gutgebauter, aber mit einer kleinen Kriegsverletzung versehener Mann auf die Insel kommt und mehreren Frauen auf Ouessant den Kopf verdreht? Insel der Frauen nannte man Frankreichs westlichsten Außenposten vor der Ärmelkanaleinfahrt, weil die Männer zur See fuhren, auf Frachtschiffen anheuerten oder auf Fischfang gingen, wenn sie nicht auf irgendeinem der zahlreichen Leuchttürme Dienst taten. Und ihre Dienstzeiten waren lang. Die allein gelassenen Frauen kümmerten sich um alles, nicht nur Haus, Hof und Familie, sondern manchmal auch um ein kleines bisschen Landwirtschaft oder sie arbeiteten in der Fischkonservenfabrik.

Er erinnerte sich an die langsame Freundschaft, die der ältere Leuchtturmwärter mit dem Kriegsversehrten schließt, und an die zunehmende Begierde des letzteren auf die Frau des ersteren und vice versa. Wie es dann irgendwann beide nicht mehr zurückhalten können und es am Rande eines Volksfestes mitten hinein in das Feuerwerk, das der Leuchtturmwärter als Überraschung zündet, draußen, an eine Mauer gelehnt, wild passiert. „Warum lächelst du so süffisant“, fragte eine Kollegin, als er für sich und Sandrine frische Getränke durch die Menschenmenge balancierte. „Ach, nichts“, entgegnete er nur.

Niemand hatte sich dem Star während seiner Abwesenheit genähert, niemand sprach sie an, wohl weniger mangelnder Sprachkenntnisse wegen als vielmehr aus Scheu. Umso besser, dann gehört sie heute Abend dir, dachte der Blauäugige, reichte ihr das Glas und fragte, was ihre Pläne seien, für die nächste Zukunft. Oh, die Auszeichnung, die sie heute bekommen habe, wollte sie genießen, mal ein paar Tage entspannen, vielleicht an die See. Sie würde die See sehr mögen, das aufgewühlte Meer, die Stimmungen am Strand, nachts baden in den Wellen, herrlich. Noch eine Gauloise?

Jetzt hatte ganz unmerklich sie offenbar die Kontrolle über das Gespräch gewonnen oder gewinnen wollen. Deshalb fragte er nach dem stärksten Eindruck für sie während ihrer Dreharbeiten damals auf Ouessant. Allein ihr beim Überlegen zuzuschauen, machte ihn wuschig. Nachts sei sie oft, wenn es zum Baden zu kalt war, kreuz und quer über die Insel gewandert, weil sie nicht hatte schlafen können, weil ihr besonders die eine Szene nicht aus den Kopf gehen wollte. Sie überlegte hin und her, wie sie sie wohl anlegen sollte – ob er verstünde, was sie meinte. – Hin und her! Äh, voll und ganz!

Es habe geblitzt und gedonnert, berichtete sie weiter, in ihrem Körper und außerhalb, obgleich es eine laue Sommernacht war, wie man sie dort draußen auf Ouessant nur selten kennt. Die Lichtschau wurde von den vielen Leuchttürmen verursacht, deren Strahlen mal kreisten, mal aufblitzen und sich mit den Positionslichtern der Schiffe vermengten, im Meer spiegelten, in den Wellen auf- und abbewegten wie in einer Disko. So seien sie auf die Idee mit dem Feuerwerk gekommen. Ob er verstünde, was sie meinte? – Immer besser, sagte er. Wenn auch weniger ihre Worte als vielmehr ihre Gefühle … und seine! Es sei geradezu dämonisch gewesen, sagte sie.

Über dem Theaterbalkon war jetzt die Nacht eingebrochen. Der Mond schien, die Verkehrslichter leuchteten. So wie hier, fragte er. – Aber nein, magischer, viel anziehender! – Das wollte er sehen, das müsste sie ihm zeigen. Ob sie dazu Lust hätte? Ein Kurztripp in die Bretagne? – Bien sure! Ein Anruf bei einem ehemaligen Uni-Kollegen, ob man ihn mal kurz nach Brest fliegen könnte. No problem! Das gibt’s doch nicht. Am nächsten Morgen saßen sie im Café du Voile am Aeroport de Brest bei frischen Croissants und warteten, dass Pilot Peter die Genehmigung für den kleinen Lufthopser über die Passage du Fromveur bekäme, jene berühmt-berüchtigte, nur etwa fünfzig Meter tiefe Fahrrinne zwischen dem Festland und der Insel, die als die gewaltigste Gezeitenströmung Europas gilt.

In nicht ganz zwanzig Minuten waren sie auf Ouessant. Sandrine trug ihm zuliebe wieder dieses geblümte Sommer¬kleid mit so einer wahnsinnig sexy aussehenden Strickjacke drüber. Sie war bereit, ihm die zentralen Drehorte des Filmes zu zeigen und er wollte nur einen sehen … und verstehen „wie sie das damals angelegt“ hätten im Feuerwerk – das verriet er aber erst später. Danke, dass du mich vor der Schaukelei der Fähre bewahrt hast, sagte Sandrine und küsste ihn auf die Wange. Na, bitte, geht doch! Es kam ihm jetzt schon so vor, als seien sie ein Paar. Rauchend saßen sie vor der Bar Tabac und tranken ein Piffchen Weißen, wie die meisten Einheimischen hier. Die kannten sie natürlich nur zu gut und begrüßten sie herzlich. Boten ihr und ihrer Begleitung auch sogleich ein Zimmer an. Mercie!

Sie nahmen sich Fahrräder und fuhren über die nur acht mal vier Kilometer große Insel, hielten oft, sahen auf das Meer hinaus, genossen Sonne und Wind. Er nahm sie unvermittelt in den Arm und küsste sie leidenschaftlich. Erst wollte sie sagen, das hätte ja ewig gedauert, sie dachte schon, er würde überhaupt niemals zugreifen – aber das war ihr dann doch zu heftig, sagte sie und versuchte es deshalb anders: Du weißt schon, dass ich verheiratet bin … und zwar schon ziemlich lange? Sind wir das nicht alle, lächelte er zurück und hatte ganz plötzlich eine ungemeine Ähnlichkeit mit mir.


Juli 2025

Turm der Liebe

Wie diese Legende vom Liebesturm geht, wollt ihr wissen? Könnt ihr haben. Es handelt sich um ein ganz besonderes Bauwerk mit dem Namen “La Toretta Marinich”, sechseckig, aus Natursteinen gemauert, vielleicht gerade mal zwölf Meter hoch, mit einer außen spindelförmig verlaufenden Wendeltreppe drum herum und einer Aussichtsplattform oben drauf. Seine Entstehungsgeschichte ist die von Petar und Antonija, einem sehr unterschiedlichen Paar. Daniela hat sie mir erzählt. Und es ist alles andere als eine Legende, es ist das wahre Leben! Glaubt mir.

Er, Petar, stammte aus einer eher armen Familie, während Antonija ein Mädchen aus wohlhabendem Hause war. Sie kannten einander schon ewig, hatten als Kinder zusammen gespielt, verbrachten ihre Kindheit gemeinsam. Und wie es nicht anders zu erwarten war, verliebten sie sich ineinander. Als aber Petar zwanzigjährig ebenso erwartbar seiner Antonija einen Heiratsantrag machte, war ihre Familie strikt dagegen: Die Standesschranken standen einer Hochzeit im Wege. Wir befinden uns noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Petar fasste den Entschluss, zur See zu fahren, um als reicher Seefahrer zurückzukehren und dann seine Antonija standesgemäß zu ehelichen. Vorher versprach er seiner Angebeteten noch ein Haus zu bauen mit einem schönen Garten und dazu einen hohen Turm, von dem aus Sie das Meer und die Inseln beobachten könnte, während sie auf seine Rückkehr wartete. Sie versprach ihm ewige Treue – und wir merken schon: Das ist der Romantik zu viel. Jahre vergingen. Petar segelte um die ganze Welt, befuhr alle Ozeane, machte Geschäfte in Australien, Amerika und Afrika. Antonija indessen verfiel in Ungeduld und Zweifel um Petars Rückkehr. Des jahrelangen Wartens müde und mürbe, heiratete sie einen von Petars Freunden.

Erst zwanzig Jahre nach seinem Aufbruch kehrte Petar auf die Adriainsel Silba zurück, er kam als reicher Kapitän in seine Heimat. Man sagt, dass hunderte von Menschen sein Schiff erwartet und empfangen hätten, nur – wie er enttäuscht feststellen musste – war seine Antonija nicht dabei. Aber in der Menschenmenge entdeckte Petar ein Mädchen, das genauso schön war wie seine Angebetete, ein wahres Abbild von Antonija. Es war deren Tochter Izidora Domenika. Als Petar von der Heirat seiner Antonija erfuhr, ließ er sich nicht entmutigen, sondern war entschlossen, diese Tochter zu heiraten, wenn er Antonija nicht haben konnte. Nur müsste er darauf noch warten, bis Domenika erwachsen war.

Tatsächlich wurden diese beiden einige Jahre später vermählt. Kapitän Petar baute das Haus nun für Domenika, und – als er schon 76 Jahre alt war – auch diesen Turm im Jahr 1892, als Zeichen seiner wahren Liebe und Treue. Mit Domenika hatte Petar schließlich elf Kinder. Antonija hat sein Haus und den Liebesturm niemals betreten. 1897 starb Petar, 1912 Domenika. La Toretta Marinich wird für immer Symbol dieser unglücklich-glücklichen Liebe sein.


Juni 2025

Cutty Sark

John Willis promenierte voller Stolz am Ufer des Leven entlang, dort wo der Fluss in den Firth of Clyde mündet. Unüblich für mittelschottische Gefilde ging er mit Spazierstock, und seinen Kopf krönte ein noch untypischerer hoher Zylinder. Ein weißer Zylinder! Man mag dem guten Mann eine gewisse Exaltiertheit unterstellen, müsste allerdings zugutehalten, dass drei Dinge für ihn sprachen:

Erstens war ihm als Londoner Reeder eine gehörige Portion Snobismus eigen, zweitens war er zuhause stets nur mit kurzem Unterhemd bekleidet (seine Gattin wünschte das so) und drittens trug er heute sein Haupt weit oben. Zu Recht. Es war der 25. November 1869 – und gerade war sein Schiff vom Stapel gelaufen.

Dorothy, die Frau des Kapitäns G. Moodie, hatte es soeben auf den Namen „Cutty Sark“ getauft, was bei Lady Willis Entsetzen auslöste: Hatte sie ihren Mann etwa auch so sehen dürfen? Zur Rede gestellt behauptete Dorothy, die breites Lowland Scots sprach, den Namen im Roman „Tam O’Shanter“ von Robert Burns gelesen zu haben, wo die schöne Hexe Nannie ein solches Cutty Sark, ein kurzes Unterhemd, trage.

Zum Beweis verwies sie auf die Galionsfigur, die eben jene Nannie im Kurzhemd darstellte. Und so rückte die durchaus berechtigte Eifersucht in den Hintergrund, wozu der im Schiffsbug eingravierte Sinnspruch ein Übriges beitat – wenngleich manch Übelmeinende darin einen augenzwinkernden Kommentar lesen mochten: „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“, war dort zu lesen, als Wortspiel auf den Schiffseigner verpackt: „Where there’s a Will…is a way:“

Den stolzen John Jock Willis kümmerte dies wenig. Seine „Cutty Sark“ war der Stolz in dieser Metropole des Schiffbaus: 85 Meter lang und elf Meter breit, mit knapp 50 Meter hohem Hauptmast und zwei unwesentlich kleineren, die 3000qm Tuch verteilt auf 43 Segel Halt gaben und den 2000 Tonnen schweren Klipper damit bis auf annähernd 20 Knoten Spitzengeschwindigkeit beschleunigen würden. Allen war klar, dass dies nicht nur das schnellste und großartigste Schiff seiner Zeit werden würde, sondern ganz sicher auch das berühmteste.

Allerdings schwebte über der „Cutty Sark“ auch das Damokles-Schwert des technischen Fortschritts. Nur wenige Jahre nach seiner Indienststellung für den Teehandel mit Indien und China gehörte es zum „alten Eisen“. Der Seeweg durch den Suezkanal verkürzte die Transportwege um die Hälfte der Zeit, zumal für die neuen Dampfschiffe. Schließlich landete Cutty Sark auf einem eigenen Trockendock im Hafen von Greenwich als Museumsschiff, wo es seit 2012 wieder besichtigt werden kann.

(aus: "In 80 Texten übers Meer". Maritime Anekdoten, Hamburg 2023)


Mai 2025

Die Sterngucker-Pastete vom Mauseloch

Mousehole, gesprochen „mausel“ ist ein Hafen „an der Mündung des Flusses der jungen Frauen“, jedenfalls wenn sich der Begriff wirklich vom kornischen Mowesheyl ableitet. Folke Tjarks kicherte in sich hinein und berichtete ernsthaft: Das 800-Seelen-Dorf gehöre zur Stadt Penzance an der englischen Südwestküste im Distrikt Penwith, Corwall, wo wenig später nur noch Lamorna Cove kommt, zum Anlegen zu klein, dann das Freilichttheater von Purthcurno und schließlich Land’s End. Mousehole ist eines der schönsten Fischerdörfer Großbritanniens, sagt man.

Auffällig ist die halbkreisförmige Kaimauer mit kleiner Öffnung zum Meer, die angeblich schon vor knapp 2.500 Jahren errichtet wurde. Interessant ist, dass die Zufahrt mit Holzbalken verschlossen werden kann, gegen Eindringlinge und Sturmfluten. Besonders angenehm erschien Folke an der Landseite die Kneipeninfrastruktur – wo manche Eingangstür zu einem Pub so niedrig ist, dass man nur gebückt hineinkommt; gebückt hinaus sei sowieso üblich, denn gemeinhin tut man dies auf allen Vieren. Spelunken, ja, könnte man auch sagen. Und zwielichtige Geschichten gäbe es auch über dieses Mäuseloch, von denen Folke hier gerne erzählen will:

Da ist zum einen Archie Leach, der nicht wirklich Archie Leach heißt, aber genauso aussieht wie dieser Anwalt aus „Ein Fisch namens Wanda“, also John Cleese von der Monty Python Truppe, und sich auch genauso linkisch bewegte: Hochgewachsen, wie er ist, machten ihm diese niedrigen Kneipen-türen von Mousehole zu schaffen, sie sind so ganz und gar nicht geeignet für ihn. Und jedes Mal, wenn er die Kneipe betrat, stieß er sich den Kopf an und löste Gelächter der Gäste aus. Das mochte noch witzig erscheinen. Doch dann musste mit der gleichen Regelmäßigkeit einer, meist der, der in seiner unmittelbaren Nähe stand, dran glauben. Das war dann nicht mehr ganz so witzig.

Oh, diese Engländer! Sie neigen dazu, sich Dinge einfallen zu lassen, die es gar nicht gibt. Jenkyn Keigwin zu Beispiel, von dem man sagt, er verteidigte als einziger Mann sein Haus vor mehr als 400 Jahren gegen spanische Eindringlinge und konnte es retten. Da alles andere niedergebrannt wurde, ist das Gebäude das älteste im Ort. Viele Jahre war darin das „Keigwin Arms“ und in dem Pub waren wir. Dachten wir jedenfalls. Jenkyn oder besser der Geist von ihm spukt noch heute in der Kneipe und in ganz Mousehole mit der Folge, dass niemand von der iberischen Halbinsel sich dieser Mausefalle nähert, den Ort gar betritt geschweige denn versucht im Hafen festzumachen. Was natur-gemäß dem Tourismus schadet.

Obwohl: Was sollen Spanier in Cornwall? Außer der Bevölkerung das Leben schwer machen. Dabei hatten die Leute hier eigene Sorgen. Das Hinterland gab für die Landwirtschaft nicht allzu viel her. Man lebte jahrhundertelang vom Fischfang und wenn man nicht rausfahren konnte, weil der Atlantik vor der Haustür wieder mal verrücktspielte, war Ebbe im Netz. Besonders in den Wintermonaten war dies ein schweres Los und verursachte einen leeren Magen – und nicht nur einen! Tom Bawcock wird nachgesagt so etwas wie der Robin Hood der Meere zu sein, das trifft es aber nicht wirklich.

Tom fuhr raus, als es kein anderer wagte – wie Forrest Gump, der Schrimpsfischer von Alabama. Einen Tag vor Heilig Abend musste es sein, denn Weihnachten ohne gedeckten Tisch geht gar nicht, sagte er sich. Vielleicht war es Glück, vielleicht Gottes Segen, Neptun, Poseidon, Rasmus oder wer auch immer hatte ein Einsehen mit Tom, der unversehrt heimkehrte und mit einem derart großen Fang zurückkam, der ausreichte, sämtliche Dorfbewohner zum Fest satt werden zu lassen. Sie dankten es ihm und feiern noch heute Tom Bawcock zu Ehren jedes Jahr am 23. Dezember ein großes Dorffest. Dann wird eine riesengroße Fischpastete angesetzt, und serviert wird sie direkt am Pier.

Wenn das Wetter mal nicht mitspielen will, durchaus auch gerne mal in der Hafenkneipe „Ships Inn“, wie die Spelunke wirklich heißt, in die es uns verschlagen hat, gleich hinter der Kaimauer. Und wo mir die Wirtin, ich komme gleich auch noch auf sie zu sprechen, das Rezept für dieses traditionelle Stargazy Pie verriet: Man nehme sieben verschiedene Fischsorten, vor allem Sardinen, Heringe, Sandaal, Stöcker, Katzenhaie und eine Dorschart namens Leng, wahlweise kann man, wenn etwas gar nicht zu bekommen ist, auch ersatzweise Makrelen verwenden. Dolly sagt, jeder Weiß-fisch sei geeignet. Man zieht den Tieren die Haut ab und entfernt die Gräten, von den Sardinen und Heringen aber weder Köpfe noch Schwänze, denn die sollen hernach aus der Teigmasse herausragen als ob sie in den Himmel schauen. Daher hat das Gericht seinen Namen Sterngucker-Pastete. Diese Pasty wird aus Milch, Eiern und gekochten Kartoffeln gemacht, meist als Mürbe- oder Blätterteig. Wir bekamen es in der Schiffsgaststätte mit Rhabarber-Chutney serviert. Igitt! Was Menschen alles essen, werden einige jetzt sagen. Kulinarisch anderweitig orientierte Nationen als die „Gourmets aus Great Britain“ neigen dazu, diese Speise durchaus als ekelerregend einzustufen. Ich bitte darum, dass dies nach Möglichkeit jede und jeder für sich selbst entscheiden möge.

Alles andere als ekelerregend war indes meine Wirtin Dolly Pentreath, die letzte mir bekannte Person, die noch flüssig das inzwischen ausgestorbene Kornisch als Muttersprache sprechen konnte. Ich habe, das könnt ihr mir glauben, in meinen vielen Jahrzehnten zur See noch mehr Frauen an ihren Küsten kennengelernt – aber bei keiner war der Anleger intensiver als bei Dolly! Ein wahrlich verrücktes Weib. Üppig und dennoch beweglich wie eine Turnerin. Man konnte nicht genau sagen, welches die wirklichen Waffen im „Keigwin Arms“ oder im „Ships Inn“ oder wo auch immer ich verführt wurde, waren. Dolly jedenfalls traf mich mitten ins Herz. Was schlimmer klingt als es in Wahrheit wirkte. Denn in diesem Sinne war mein Herz schon komplett durchlöchert.

„Das Hauptziel im Leben eines Engländers – zumindest der unteren Mittelklasse, der ja auch ich entstamme – ist es, sicher bis ins Grab zu kommen, ohne auf dem Weg dahin allzu großen Peinlichkeiten ausgesetzt gewesen zu sein.“ Soll Archie Leach, also richtiger John Cleese, einmal gesagt haben. Peinlicher als das, was mir altem Seebären in dieser Mausefalle geschah, ist wohl nichts, was ihr euch vorstellen könnt. Gerade als Dolly und ich uns einig waren und sie die Kneipe abschließen wollte, kam aufgeregt Archie Leach angerannt, rammte sich seinen Schädel an der Tür des Pubs und stotterte: Folke, dein Schiff! Ich rannte raus, der Mast war nicht mehr zu sehen. Die Segelyacht lag auf einem Sandhaufen mitten im Hafenbecken, 20 Meter lang hingestreckt und so auf der Seite, dass sie, als sie umgefallen ist, kein anderes Boot traf. Sauber, sagte Dolly, zog mich von der Kaimauer weg und meinte, in sechs Stunden steht er wieder, der Kahn.

(aus: FOLKE TJARKS: „Klabautermann der uferlosen Wörter“)


April 2025

Turm der Liebe

Wie diese Legende vom Liebesturm geht, wollt ihr wissen? Könnt ihr haben. Es handelt sich um ein ganz besonderes Bauwerk mit dem Namen “La Toretta Marinich”, sechseckig, aus Natursteinen gemauert, vielleicht gerade mal zwölf Meter hoch, mit einer außen spindelförmig verlaufenden Wendeltreppe drum herum und einer Aussichtsplattform oben drauf. Seine Entstehungsgeschichte ist die von Petar und Antonija, einem sehr unterschiedlichen Paar. Daniela hat sie mir erzählt. Und es ist alles andere als eine Legende, es ist das wahre Leben! Glaubt mir.

Er, Petar, stammte aus einer eher armen Familie, während Antonija ein Mädchen aus wohlhabendem Hause war. Sie kannten einander schon ewig, hatten als Kinder zusammen gespielt, verbrachten ihre Kindheit gemeinsam. Und wie es nicht anders zu erwarten war, verliebten sie sich ineinander. Als aber Petar zwanzigjährig ebenso erwartbar seiner Antonija einen Heiratsantrag machte, war ihre Familie strikt dagegen: Die Standesschranken standen einer Hochzeit im Wege. Wir befinden uns noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Petar fasste den Entschluss, zur See zu fahren, um als reicher Seefahrer zurückzukehren und dann seine Antonija standesgemäß zu ehelichen. Vorher versprach er seiner Angebeteten noch ein Haus zu bauen mit einem schönen Garten und dazu einen hohen Turm, von dem aus Sie das Meer und die Inseln beobachten könnte, während sie auf seine Rückkehr wartete. Sie versprach ihm ewige Treue – und wir merken schon: Das ist der Romantik zu viel. Jahre vergingen. Petar segelte um die ganze Welt, befuhr alle Ozeane, machte Geschäfte in Australien, Amerika und Afrika. Antonija indessen verfiel in Ungeduld und Zweifel um Petars Rückkehr. Des jahrelangen Wartens müde und mürbe, heiratete sie einen von Petars Freunden.

Erst zwanzig Jahre nach seinem Aufbruch kehrte Petar auf die Adriainsel Silba zurück, er kam als reicher Kapitän in seine Heimat. Man sagt, dass hunderte von Menschen sein Schiff erwartet und empfangen hätten, nur – wie er enttäuscht feststellen musste – war seine Antonija nicht dabei. Aber in der Menschenmenge entdeckte Petar ein Mädchen, das genauso schön war wie seine Angebetete, ein wahres Abbild von Antonija. Es war deren Tochter Izidora Domenika. Als Petar von der Heirat seiner Antonija erfuhr, ließ er sich nicht entmutigen, sondern war entschlossen, diese Tochter zu heiraten, wenn er Antonija nicht haben konnte. Nur müsste er darauf noch warten, bis Domenika erwachsen war.

Tatsächlich wurden diese beiden einige Jahre später vermählt. Kapitän Petar baute das Haus nun für Domenika, und – als er schon 76 Jahre alt war – auch diesen Turm im Jahr 1892, als Zeichen seiner wahren Liebe und Treue. Mit Domenika hatte Petar schließlich elf Kinder. Antonija hat sein Haus und den Liebesturm niemals betreten. 1897 starb Petar, 1912 Domenika. La Toretta Marinich wird für immer Symbol dieser unglücklich-glücklichen Liebe sein.


März 2025

Skillias

Diese wahre Anekdote spielt in Skioni, was eine Kolonie der griechischen Insel Euböa auf der Kassandra-Halbinsel im Chalkidiki war, dort wo heute das Dorf Nea Skioni liegt. In dem überwiegend von Fischerbooten benutzten Hafen ging ich vor einigen Jahren vor Anker – und abends in einer Hafenbar erzählten mir die Einheimischen stolz von ihrem berühmtesten ehemaligen Mitbewohner:

Der Historiker Herodatos von Halicarnassos, bekannt als Vater der Geschichte, berichtet, dass 480 v.Chr. der berühmte Taucher und Schwimmer Skillias aus Skioni von den Persern gefangen genommen werden sollte. Sie wussten um seine großen Fähigkeiten, die sie gegen die griechische Flotte einsetzen wollten. Als Skillias von ihren Plänen erfuhr, tauchte er in die See, kappte die Ankerleinen der persischen Schiffe und verursachte damit große Schwierigkeiten für die persische Flotte. Einen Halm als Schnorchel benutzend schwamm er, ohne an die Wasseroberfläche zu gelangen, ans neun Seemeilen entfernte Kap Artemista (wenn wir Herodatos Glauben schenken können) und verriet die persischen Pläne an die Griechen.

So vermieden die Griechen in die Falle zu gehen, die die Perser ihnen gestellt hatten, erkannten rechtzeitig deren lauernde Flotte und vernichteten sie in fortgesetzten Seeschlachten. Der Taucher Skillias hatte Griechenland gerettet. In Anerkennung der Heldentaten von Skillias und seiner Tochter „Idna, die ebenso eine herausragende Schwimmerin war und ihren Vater effektvoll unterstützte“, wie es in der Überlieferung geschrieben steht, setzten die Amphictryons ihren beiden Helden Statuen als Denkmale in der heiligsten aller griechischen Stätten, nämlich in Delphi.